Parallele zwischen Argentinien und Deutschland und warum kann man Länder nicht vergleichen, wenn es um das Thema geht.

Wenn „wir“ nicht wissen, woher „wir kommen, wissen „wir“ auch nicht, wohin wir gehen. . . Unter diesem Leitprinzip ist Erinnerungskultur ein wichtiges und breites Spektrum in unserem Leben. Sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen und deren Verarbeitung ist unsere größte Verantwortung, damit „wir“ als Gesellschaft weltweit nicht mehr alte Fehler begehen.

Was versteht man unter „Erinnerungskultur“?

Erinnerungskultur bezeichnet den Umgang des Einzelnen und der Gesellschaft mit ihrer Vergangenheit, ihrer Geschichte, um Teile der Vergangenheit im Bewusstsein zu halten und gezielt zu vergegenwärtigen. Es geht auch darum, in welcher Art und Weise eine Gesellschaft auf Dauer damit umgeht, daran erinnert und wie eine Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hergestellt  und die Konsequenzen und die Verantwortung dafür übernommen werden.

Bild von Carl S auf Pixabay

In Deutschland, Österreich und vielen anderen Ländern ist Erinnerungskultur im Wesentlichen ein Synonym für die Erinnerung an den Holocaust und die Opfer der Zeit des Nationalsozialismus (Juden, Sinti Roma, Homosexuelle). Verarbeitet wird und bedacht wird auch der Fall der Mauer als Ende einer Diktatur, die 28 Jahre lang in der ehemaligen DDR, heute neue Bundesländer, regierte.

Völkermorde in der Welt

Die Apartheid ist ein wichtiger Teil südafrikanischer Erinnerungskultur

Völkermorde sind auch in vielen anderen Ländern Gegenstand der Erinnerungskultur mit teilweise erheblichem Konfliktpotenzial insbesondere, wenn dies auch heute noch benachteiligte Minderheiten betrifft. Beispiele hierfür sind  der Aufstand der Herero und Nama in Namibia, Völkermord an den Armeniern in Armenien und in der Türkei und Völkermord in Ruanda, Apartheid in Südafrika, die Terrorherrschaft in Kambodscha, die Taten Stalins in der Sowjetunion, Maos in China oder die Kriegsverbrechen der japanischen Armee in Ostasien während des japanisch-chinesischen Krieges, der Mord an 10 Millionen Kongolesen durch die belgische Gier des Königs Leopold II, ein brutaler Kolonialherr. Und warum sollten wir  auch nicht dabei erwähnen, die Ausrottung und Ausplünderung in Amerika durch die spanischen und portugiesischen Konquistadoren. Wieviel es waren, von 70 Millionen kamen 90% nicht ums Leben? Wurden die Eingeborenen nicht beraubt, entvölkert, verwüstet?

Und so kommen wir zu unserer eigenen Geschichte. . . Die Geschichte am Rio de la Plata.

Argentinien war nicht immer Argentinien

Um die Geschichte und Fakten besser zu verstehen, werfen wir einen Blick in die Vergangenheit, in die Zeit der Kolonisierung

Zu aller nächst gründeten die spanischen Eroberern das Vizekönigreich am Rio de la Plata (Gründung der Stadt Buenos Aires 1580 Juan de Garay).

Eine Aufgabe der Kolonisierung war auch die Verbreitung des  Christentums. Die Jesuiten waren zuständig für die Evangelisierung und Erziehung der Indigenen im Norden und gründeten die Missionen. Um sich mit ihnen verständigen zu können, strukturierten die Mönche das Idiom der Indigene, „Guarani“ mit der Grammatik der lateinischen Sprache.

1624 wurde die Universität von Chuquisaca in Bolivien gegründet, wohin wohlsituierte Kinder spanischer Abstammung gingen. Schon damals gab es rassistische Vorurteile gegen Studenten deren Eltern Spanier und Kreolen waren.

Hier begann die Ambivalenz des kolonialen Bildungssystems, der Mythos der hispanisch-katholischen Reinheit wird eingeführt. Mit der Zeit entwickelte sich ein Staat, wo die Kirche immer präsent war und ist.

Die obengenannten Gründe führten das heutige Argentinien im XIX und XX Jahrhundert zu einer besonderen Natur. Wenn man manche Politiker, Militär und Bürger der damaligen Zeit betrachtet, kann man sogar ein faschistisches Merkmal entdecken.

Und diese Reise in die Zeit führt uns nun zu Argentinien in den 30 er Jahre. Entscheidende Jahre in Europa, denn Adolf Hitler kam an die Macht, General Franco in Spanien, Benito Mussolini in Italien. Die Auswirkungen ließen sich hier in unserem südamerikanischen Land spüren. Argentinien, ein Vielvölkerstaat!

Ja, ein Vielvölkerstaat sowohl mit Vorteilen als auch mit Nachteilen.

Argentinien und das Dritte Reich. Der 2. Weltkrieg

Schon im Jahre 1938 fand in Buenos Aires eine schockierende Nazi-Feier statt. Im großen Raum von Luna Park versammelte sich eine Menschenmenge um den Anschluss Österreichs an das Dritte Reich zu feiern. Tausende Argentinier trugen Hakenkreuze und bejubelten Adolf Hitler.

Dieser Fakt in der argentinischen Geschichte sollte nicht vergessen werden, aber wie viele Menschen wissen es? Nein, nein, darüber redet man nicht, genauso wie über andere obskure Episode in dem südamerikanischen Land. Vieles wird unter den Teppich gekehrt.

Und noch eine sehr interessante Angabe:

Argentinien erklärte dem Dritten Reich den Krieg „erst“ im April 1945, ein paar Wochen vor dem Kriegsende.

Nach Kriegsende reisten viele Nazi-Bonzen nach Argentinien mit gefälschten Pässen ein und einige von denen waren sogar tätig in der Regierung.

Kein Wunder mit solcher Vorgeschichte, dass eines Tages sich eine Militärdiktatur etablierte. Man redet von etwa 30.000 Verschwundene, aber eigentlich wäre es  nicht wesentlich die Zahl sondern die Untat, Menschen zu unterdrücken, zu foltern, zu töten, nur wegen „ein Anders denken“.

Die Gedanken sind frei und die Freiheit ist das wertvollste Gut eines Menschen. Viktor Frankl schrieb in seinem Meisterwerk „Der Sinn des Lebens“: „Man kann dir alles wegnehmen, außer der Freiheit so zu handeln, wie du es möchtest.“

Das dunkelste Kapitel in der argentinischen Geschichte: Die Militärdiktatur

Wenn man das Böse, das man getan hat, nicht anerkennt, entzieht man sich der Verantwortung“ Jorge Mario Bergoglio

Auszug aus meinem Werk „Als ich mit dem Papst U-Bahn fuhr“.

Persönliche Erlebnisse von Erika Rosenberg über die Militärdiktatur

Leidvolle Jahre brachen Mitte der Siebziger in meiner Heimat an. Für das ganze Land wie für jeden Einzelnen von uns. Eine Militärjunta unter General Jorge Rafael Videla putschte sich 1976 an die Macht und überzog Argentinien mit unvorstellbarem schrecken und Terror.

Bespitzelung und Überwachung, Verhaftungen und Folter waren an der Tagesordnung. Menschen verschwanden spurlos, tauchten nie wieder auf. Von manchen fand man nicht einmal die Leichen. Eine dunkle, drohende Wolke senkte sich über die Provinzen, Städte, Dörfer, lähmte das öffentliche Leben und erstickte alle Freude und Heiterkeit, die meinen Landsleuten eigentlich zu eigen ist. Nicht umsonst sprach man von der „bleiernen Zeit“.

Allerdings hatte das Verhängnis bereits früher angefangen – Ende der Sechzigerjahre, als eine unheilvolle Polarisierung in Links und Rechts die argentinische Gesellschaft spaltete und tiefe Gräben riss. Wunden, die bis heute nicht verheilt sind.

Ach damals herrschte eine Militärregierung, wenngleich mit weniger diktatorischen Vollmachten und nicht mit der gleichen Brutalität wie später Videla und seine Gefolgsleute. Trotzdem lieferten sich ihre Anhänger erbitterte Kämpfe mit peronistischen und sozialistischen Gruppen, die teilweise den Charakter von Volksaufständen annahmen. Wirtschaftliche Misserfolge taten ein Übriges. 1970 traten die Militärs zurück.

Nach mehreren gescheiterten Anläufen mit der Demokratie wusste man sich 1973 keinen anderen Rat mehr, als den fast zwei Jahrzehnte zuvor verjagten Juan Domingo Perón aus dem spanischen Exil (unter Francos Obhut) zurückzurufen. Es brachte nichts, denn der Politstar von einst schaffte es ebenfalls nicht, die auseinanderstrebenden gesellschaftlichen Gruppen zu versöhnen, und fuhr überdies unter Abkehr von seinen eher linken Anfängen einen zunehmend rechtsgerichteten Kurs. Als er ein Jahr später starb und seine Ehefrau Isabel die Präsidentschaft übernahm, begann Argentinien endgültig und unaufhaltsam dem Abgrund zuzutrudeln…

Endgültig ging die Böse Saat auf, als im März 1976 das Militär putschte und Isabel Perón, die aufgrund eines desaströsen wirtschaftspolitischen Kurses jeden Halt in der Bevölkerung verloren hatte, ihres Amtes enthob. Noch am gleichen Tag wurden das Parlament aufgelöst und jede parteipolitische Betätigung verboten.

Die Grundlagen für ein diktatorisches Regime waren geschaffen, zumal auch die bis dahin zumindest nominell unabhängige Justiz fortan von der Junta kontrolliert wurde.

Politisch geschickt versprachen die Militärs den gottgläubigen und romtreuen Argentiniern, ihre Politik an christlich-konservativen Werten auszurichten und aufzuräumen mit den terroristischen linken Umtrieben. Die Kirche in meinem Heimatland gefiel das, und sie fand sich in weiten Teilen zum Schulterschluss mit den neuen Machthabern bereit. . .

 Meine eigene Erfahrung: Ein Tag bei der Geheimpolizei

Wie schnell man damals den Greiftrupps in die Hände fallen konnte, habe ich am eigenen Leibe erfahren. Ein schreckliches Erlebnis, das ich bis heute nicht vergessen kann.

Ich war fünfundzwanzig, eine junge Ehefrau und Mutter und unterrichtete an einer Sekundarschule. Eines Tages rief der Direktor alle Lehrer zu einer außerplanmäßigen Konferenz zusammen und warnte uns in der Schule  über Politik zu sprechen. Vermutlich hielt er selbst sich nicht an seine Empfehlungen, denn einige Monate später wurde er von heute auf morgen ohne Angabe von Gründen entlassen. Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht.

Ich musste allmorgendlich gegen halb acht in der Schule sein. Irgendwann fiel mir auf, dass immer ein grüner Ford Falcon an der Ecke stand, in dem vier Personen saßen und die Passanten beobachteten. Später sah ich mehrmals, wie einige der älteren Schüler angehalten und befragt wurden. Wer von den Umstehenden nicht betroffen war, schaute unbeteiligt weg. Auch wir Lehrer. Wir schwiegen sogar, als plötzlich die Plätze einiger Jugendlicher leer blieben. Der neue Schuldirektor hatte uns verboten, bei den Eltern nachzufragen.

Mich erwischte es an einem regnerischen Morgen im argentinischen Winter. Kurz vor dem Schultor spürte ich plötzlich eine kräftige Hand auf meinem Arm. Als ich mich überrascht umdrehte, um zu protestieren, sagte der Mann: „Sei ganz ruhig“, und deutete auf den grünen Ford. „Steig in den Wagen ein, wir bringen dich zu unserer Dienststelle.“ Wie die Gestapo, schoss es mir durch den Kopf, denn meine Eltern, die vor Hitler aus Deutschland geflohen waren, hatten mir von diesen berüchtigten Nazischergen erzählt. Mir blieb jedoch nichts anderes übrig, als seinem Befehl zu folgen.

Die drei Kollegen sahen ebenfalls nicht vertrauenerweckend aus.

Die Dienststelle, zu der sie mich brachten, gehörte vermutlich der Geheimpolizei, denn ein reguläres Polizeirevier war es nicht. Mir wurde angst und bange, Panik stieg in mir auf. Ich dachte an meinen Sohn, an meinen Mann, an meine Mutter. Und meinem Vater, der schon lange tot war, sandte ich die flehentliche Bitte, er möge mir, wo immer er auch sei, aus dieser Gefahr helfen.

Furchtsam  schaute ich mich in dem Raum um: kahle Wände, ein paar Schreibtische, ein paar Stühle, eine Bank. Auf jedem Schreibtisch eine grüne Schreibmaschine der Marke Remington, daneben Papier und Kohlepapier. Mir fiel auf, dass es keine Fenster gab und keine Telefone, dafür drei Türen. Ich hörte junge Stimmen etwas murmeln und einen jungen schreien. Hinter einer anderen Tür weinte jemand. Die Männer, die mich hergebracht hatten, waren weg. Vermutlich schon wieder auf der Jagd nach neuen Opfern. Ich saß allein in dem kargen Büro und wartete. Worauf?

Nach etwa zwei Stunden tauchte ein Mann in Uniform auf und bedeutete mir mit einem Wink, ihm zu folgen. In seinem Büro stellte er mir allerlei Fragen. Als er erfuhr, dass meine Eltern Verfolgte des Nationalsozialismus gewesen waren, ließ er mich gehen. Ohne Angabe von Gründen, genau wie ein paar Stunden zuvor bei meiner zwangsweisen Abführung. Ich wurde lediglich  dazu verpflichtet, über meinen „Besuch“ auf dieser Dienststelle Stillschweigen zu bewahren.

Warum er mich gehen ließ, habe ich nie erfahren. Vielleicht hegte er ja persönlich Sympathien für NS-Verfolgte. Offizielle Linie war das jedenfalls nicht, denn die argentinischen Regierungen hatten bislang eher ein Herz für NS-Täter gezeigt. Möglich ist allerdings auch, dass ich rein zufällig oder nach dem Rasterprinzip aufgegriffen wurde. Willkür war schließlich eine wichtige Säule dieses staatlichen Terrors.“

Warum ist die Erinnerungskultur so wichtig in einer Gesellschaft?

Erinnerungskulturen sind die historisch und kulturell variablen Ausprägungen von kollektivem Gedächtnis.

Wenn man nicht weiß woher man kommt, weiß man auch nicht wohin man geht.

Wie wichtig die Erinnerung ist, sieht man vor allem bei den Ländern, die eine Selbstkritik geführt haben. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, die Analyse der Fakten, die Konfrontation mit sich selbst führt einen Menschen, ein Volk die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen.

Imagen de Claudio Bianchi en Pixabay

Manche Länder tendieren zu verdrängen, vergessen, verschweigen. Das war der Fall in den 50er, 60erin Deutschland auf die Frage Holocaust, Nationalsozialismus. Auch ist nämlich der Fall hier in Argentinien. Gibt es  jedoch einen großen Unterschied zwischen beiden Ländern. Deutschland hat eine Selbstkritik geführt und führt sie  heute noch. Argentinien ist in der Hinsicht sehr träge.

Nach fast 40 Jahren hat Argentinien immer noch nicht richtig diese Epoche verarbeiten können.

Hier und da ein Versuch, aber wirklich nicht gründlich, denn man trifft heute Menschen, die bei jeder Wirtschaftskrise oder ständig zunehmenden Kriminalitätsraten sofort sagen: “Schade, dass das Militär nicht an der Regierung ist. . .“ Meines Erachtens ein Zeichen gewisser Ignoranz vor vollendeten Tatsachen. Fakten, die ganz anderes gewesen wären, wenn in Argentinien eine Erinnerungskultur vorhanden gewesen wäre.

Was mache ich für die Erinnerungskultur?

Mein höchstes Anliegen war und ist durch meine veröffentlichten Biographien sowohl Retter als auch Gerettete ein literarisches Denkmal setzen.

Denkmäler, Bücher, Gedenkstätten, Doku-Filme, Tagungen, Seminare, Memorials gehören zur Erinnerungskultur, auch Vortragsreihen an Schulen bei den jüngeren Generationen, die die besten Multiplikatoren sind.

Nun zum Schluss, Erinnerungskultur ist sich in die Vergangenheit zu vertiefen, damit sich auseinanderzusetzen,  die Geschichte kritisch betrachten und Schlussfolgerungen daraus  ziehen.

Prof. Erika Rosenberg

Zur Autorin: Erika Rosenberg

Prof. Erika Rosenberg, 1951 in Buenos Aires geboren, ist Journalistin und Autorin und hat als Dozentin am Goethe-Institut, im Argentinischen Auswärtigen Amt und an der Katholischen Universität zu Buenos Aires gearbeitet. Sie ist Übersetzerin und Dolmetscherin. Im Jahr 2014 wurde ihr das Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland am Bande verliehen, im März 2016 erhielt sie den Austrian Holocaust Memorial Award des Österreichischen Auslandsdienstes.

Erika Rosenberg war eine enge Vertraute der Schindler-Witwe Emilie (1907-2001), die nach vielen in Argentinien verbrachten Jahrzehnten wieder nach Deutschland zurückgekehrt war, und hat u. a. Biografien über Oskar und Emilie Schindler verfasst.

Auswahl ihrer Veröffentlichungen

Weitere Projekte

Erika Rosenbergers Blog:

rosenbergerika.blogspot.com/

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