Heute vor vier Wochen verließen wir Deutschland. Der Abschied fiel uns schwer. Mit Doppelgefühl bestieg ich die LH Maschine in München, dann wieder Mal die Kontrollen in Frankfurt und Ruck Zug startete der Flieger gen Südamerika. Vor uns über 13 Stunden Flug in der Nacht. Am Morgen würden wir in Buenos Aires landen.
Wenn ich sagen würde, ich hätte geschlafen, würde ich sicherlich lügen. Mich befassten viele Gedanken, Erlebnisse, die ich im Laufe der Zeit verarbeiten sollte.
Einerseits war ich ganz glücklich nach Buenos Aires nach der langen, stressigen Vortragsreise mitten der Pandemie zurückzukehren. Andererseits fühlte ich Sehnsucht nach Deutschland.
Dieses Gefühl überkommt mir jahrein jahraus, jedoch diesmal brauchte ich viel länger mich hier einzuleben. Warum, weshalb, wenn ich hier selbst geboren wurde, Buenos Aires ist meine Heimatstadt. Hier bin ich zur Schule gegangen, habe auch studiert, habe geheiratet den Mann meines Lebens, ist unser Sohn Eric geboren, auch dessen Kinder, Madame Daphne, unsere Pudelin wartet immer auf uns. . . ja, aber ich erkenne mein Land schon gar nicht mehr.
Ich gehe durch die Straßen, bin zur stillen Beobachterin geworden, sehe die vielen, aber vielen Obdachlosen, die weder einen Teller Suppe zu haben. noch eine Krankenkenversicherung und auch keine Impfungen. Sie liegen einfach an Ecken, sie hausieren an Wohnungseingängen währen der Nacht, aber wenn am Morgen die Bewohner herauskommen, müssen sie schnell weg. Niemand unternimmt etwas. Kein Erbarmen seitens der Regierung, der Politiker.
Die Zahl der Infizierte steigt horrend zu, ca. 70% der Bevölkerung ist infiziert Tag für Tag und es wird immer mehr und mehr. Die Regierung scheint auf einem anderen Planet zu schweben , nicht mal auf festem Boden, nicht mal die rauhe, traurige, besorgniserregende Realität. Sie sind gut aufgehoben in ihrem Mikrokosmos . Aber wie gut? Wie lange noch? Macht das Virus um sie einen Bogen?
Vor Krankenhäusern, Testzentren bilden sich schon am frühen Morgen unendliche Menschenschlangen. Alle wolle getestet werden. Ärzte, Krankenpfleger, im Labor, Apotheker, usw. schaffen es bald nicht mehr, denn sie werden auch krank, fallen um.
Und inmitten dieser Sodom und Gomorrha sind wir argentinische Sterbende. Ein wirklich sehr düsteres und aussichtsloses Panorama zu dem sich die hohe Inflation, die schreckliche Entwertung des argentinischen Pesos summiert. Und als ob diese Konstellation im Sommer 2022 nicht reichen würde, haben wir die schrecklichste Hitzewelle mit 40 Grad Celsius. . . und als ob es dies auch nicht genügend wäre, Stromausfall, Wassermangel. Gestern schien Buenos Aires aus der Welt gefallen zu sein: kein Strom, kein Wasser, kein Internet, nicht mal funktionierten die Handys mit mobilen Daten.
Ein ganz komisches Gefühl, das Gefühl von der Welt völlig ausgeschlossen zu sein. Aber die Regierung, die Politiker reden laute Töne, uns gehe es sehr gut.
Anstatt stärkere Corona Maßnahmen zu treffen, hat das Gesundheitsministerium nun alles offen gelassen, damit die Menschen in die Ferien gehen. Alle fahren, nach der langen Quarantäne, die längste in der Welt an die Küste, an die Berge, jugendliche feiern zusammen trotz Symptome am Strand. Alle wollen den Augenblick genießen. Niemand denkt an die Zukunft, an die Folgen.
Laut einer schweizerischen Studie wollen 80% unserer Jugendlichen auswandern. Manche schaffen es, die meisten haben gar keine Mittel, eine verhängnisvolle Zukunft!
Man weiß gar nicht im Voraus, wie sich der Tag präsentiert. Der Tagesanbruch gestaltet sich immer sehr schwer, wählerisch, mühsam, und vor allem muss man sehr erfinderisch sein.
Ja, ja die Kreativität war immer eine unserer größten Tugend, nun sehe ich viele ganz stumm, unfähig etwas zu unternehmen und das besorgt mich sehr.
In Argentinien Projekte zu haben, wird immer schwieriger ausfallen. Das einzige Projekt ist für viele zum Flughafen. . .
Das wunderschöne aber heruntergewirtschaftete Land Argentinien orientiert sich nun Richtung Venezuela, Nicaragua, Iran, Putin. . .Was wird und wie, weiß man nicht. In großer Unsicherheit zu leben ist gar kein Programm, aber widerspiegelt die aktuelle Landschaft einer Nation, die einst die Getreidekammer der Welt war.
Aus den tiefsten Beobachtungen und Überlegungen einer Autorin, die zwischen den Welten pendelt