Buenos Aires (AT) - Es gibt wohl keinen
anderen Film, der den Holocaust so intensiv
darstellt, wie Steven Spielbergs „Schindlers
Liste“. 1200 jüdische KZ-Häftlinge bewahrten der deutsche Unternehmer Oskar
Schindler und seine Frau Emilie während der
NS-Diktatur mit ihren Listen vor dem Tod.
Der Film wurde 1994 in Hollywood als bester Film ausgezeichnet. Deutschlandpremiere war am 1. März 1994, in Argentinien am
24. Februar. In diesem Jahr wird Spielbergs
Holocaust-Film 25 Jahre alt. Mit dem Film
hat der Regisseur gezeigt: Der Holocaust ist
verfilmbar - und das, ohne den Schrecken
zu mindern.
Drehbuch. Szene 13. Rudi versucht die
Affäre seines Kollegen Oskar Schindler
zu decken. Er wendet sich an dessen Frau:
„Oskar muss noch außerhalb arbeiten.“ Frau
Schindler entgegnet trocken: „Sie müssen
nicht für ihn lügen. Ich ahne, wo er ist.“
Rudi zögert, bevor er antwortet: „Es tut mir
leid. Ich fürchte, ich habe Sie unterschätzt.“
Das letzte Wort trifft es auf den Punkt:
„unterschätzt“. Denn es spiegelt die Rolle
wider, die Emilie Schindler Zeit ihres Lebens
zugeschrieben wurde. Und so steht es auch
schwarz auf weiß im Drehbuch. Aber nicht
in dem Drehbuch, das 1993 die Grundlage
für Spielbergs Verfilmung „Schindlers Liste“ lieferte - und Oskar Schindler weltweit
bekannt machte. Nein, es steht in dem Originaldrehbuch von 1964.
Was Spielbergs preisgekrönte Verfilmung nämlich nicht zeigt, ist der Anteil von
Schindlers Ehefrau Emilie an der Rettung der
Juden. Dabei hätte man sie fragen können:
Bis 2001 lebte Frau Schindler unweit von
Buenos Aires. Hierzulande war sie keine Unbekannte - 1995 wurde ihr die argentinische
Ehrenbürgerschaft verliehen. Doch Emilie
Schindler ging es zu Lebzeiten vor allem
darum, dass ihre Geschichte wahrheitsgemäß erzählt und ihr Kampf für die Juden
nicht unterschlagen wird. Medaillen und
Auszeichnungen waren ihr weniger wichtig.
Die hat sie nach Erscheinen von Film und
Biografie zur Genüge bekommen. „Ich habe
mit vielen Überlebenden gesprochen - in
Israel, Europa, Australien. Diese Menschen
haben gesagt, dass Frau Schindler die ganze
Zeit dabei gewesen wäre. Deswegen ist es
eine ganz andere Geschichte“, sagt Erika
Rosenberg, Biografin und Nachlassverwalterin der Schindlers.
Eine andere Geschichte
Erika Rosenberg wollte 1990 ein Buch
über die Einwanderung in Argentinien verfassen. Bei ihrer Recherche stieß sie - dank
des Argentinischen Tageblatts - auf Frau
Schindler. Denn bereits 1963 hatte sich der
damalige Chefredakteur Peter Gorlinsky
für die persönliche Geschichte von Emilie
Schindler interessiert. Oskar Schindler reiste
damals nach Israel, worüber die Medien berichteten. Doch: kein Wort über seine Frau.
Gorlinsky titelte schließlich am 30. Januar
1964 im Tageblatt „Vater Courage bleibt
unvergessen - aber wie steht es mit „Mutter
Courage“? In seinem Artikel mahnte er an,
dass Frau Schindler an allem, das zum Gelingen der Rettungsaktion beitrug, den gleichen
Anteil hatte wie ihr Mann.
Und eigentlich wäre Emilie Schindlers
Biografie daraufhin anders verlaufen: Fast
hätte man ihr ihren Verdienst an der Rettung
der Juden zugestanden. So scheint es zumindest, wenn man die ersten 30 Seiten des
Drehbuchs von „To the last hour“ liest. „Bis
zur letzten Stunde“ sollte die ursprüngliche
Verfilmung heißen. „Denn bis zur letzten
Stunde haben Emilie und Oskar um ihre
Juden gekämpft“, sagt Rosenberg. Die Idee
zum ersten Filmprojekt stammte von Poldek
Pfefferberg, einem „Schindlerjuden“. Dieser
riet Oskar Schindler, seine Geschichte niederzuschreiben. Das tat er auch. Es folgte ein
Vertrag mit Metro-Goldwyn-Mayer Studios
Inc. (MGM), den auch Emilie Schindler
unterschrieb. Das Drehbuch wurde 1965
fertiggestellt. Autor war kein Geringerer als
Howard Koch, der bereits für das Drehbuch
zu „Casablanca“ einen Oscar bekommen
hatte. „Für die Hauptrollen - denn die hätte
auch Emilie Schindler gehabt, waren Romy
Schneider und Richard Burton vorgesehen“,
so Rosenberg. Im Dezember 1965 sollte der
Film gedreht werden.
Doch dann kam alles anders. „1967 beschloss eine Lobby in Hollywood, das Projekt auf Eis zu legen. Es war noch nicht die
Zeit gekommen, einen Film über einen guten
Deutschen zu zeigen“, erklärt Rosenberg.
Oskar habe um die Rückgabe des Drehbuchs
gebeten. „Es blieb wie verschollen. Aber vor
zwei Jahren habe ich 30 Seiten ausfindig machen können“, erzählt Rosenberg. Und diese
ersten 30 Seiten lassen bereits tief blicken.
Denn während Emilie Schindler in Spielbergs mehr als dreistündigem Blockbuster
in nur wenigen Szenen präsent ist, wirkt sie
bei Koch in der Hälfte der ersten Szenen mit.
Wichtiger als die Quantität ihres Beitrags, ist
allerdings die Qualität.
Starke Frauenfigur
In „Schindlers Liste“ wird Emilie Schindler auf die Rolle der gehörnten Ehefrau
reduziert. Sie ist schmückendes Beiwerk
neben ihrem Mann. Ein austauschbares
dramaturgisches, passives Element. „To the
last hour“ startet dagegen mit Schindler in
der Wohnung seiner Geliebten. Als diese
fragt, ob sie zusammen frühstücken würden,
antwortet er: „Ein guter Ehemann frühstückt
bei seiner Frau.“ Das tut er dann auch.
Trotz dieser doch sonderbaren Beziehung,
zeigt sich in den folgenden Szenen schnell,
wie wichtig Schindler die Meinung seiner
Frau ist. So missbilligt diese, dass er der
Abwehr, dem Geheimdienst der deutschen
Wehrmacht, beitritt. Er sagt daraufhin: „Politik interessiert mich null.“ Sie erwidert:
„Politik beeinflusst alles, was wir tun. Auch
die Freunde, die wir machen - selbst, ob wir
leben oder sterben.“ Oskar Schindler entgegnet ihr: „Der Unterschied zwischen uns,
Emilie, ist - und das könnte einiges erklären
- dass du denkst und ich fühle.“
Koch zeichnet hier deutlich das Bild
einer reflektierten, selbstbewussten Frau
an der Seite von Schindler. Und das war
sie auch. So darf nicht vergessen werden,
dass Emilie Schindler im Januar 1945 einen Transport mit 120 fast verhungerten
Zwangsarbeitern bei sich aufgenommen
hat. Eigenverantwortlich. Hätte sie nicht
gehandelt, hätte den Juden der sichere Tod
gedroht. „Frau Schindler war zuständig für
die geheime Unterstützung und Hilfe bei so
vielen in der Fabrik. Diese Ameisenarbeit.
Was wäre passiert, hätte man sie erwischt?“,
fragt Rosenberg. Auch dieser Mut kommt
im Originaldrehbuch zum Tragen. In einer
Szene fragt Rudi, NSDAP-Mitglied und
Kollege von Schindler: „Sie billigen nicht,
was Oskar tut - ich meine die Abwehr, nicht
wahr?“ Darauf antwortet Emilie Schindler:
„Nein.“ Rudi entgegnet: „Woher wissen Sie,
dass ich Sie nicht melde, dafür dass Sie eine
Behörde des Dritten Reichs verunglimpfen?“
Sie antwortet: „Ich weiß es nicht.“
Im Jahr 1980 verkaufte MGM die Filmrechte von „To the last hour“. Sie wurden
auf Universal Pictures übertragen. Um diese
Zeit traf Pfefferberg zufällig auf den australischen Schriftsteller Thomas Keneally.
Er konnte ihn überzeugen, ein Buch über
die „Schindlerjuden“ zu schreiben. 1982
veröffentlichte Keneally dann den Roman
„Schindlers Ark“ (Schindlers Arche), auf
dem Spielbergs Film basiert. Doch während
das Originaldrehbuch auf Gesprächen mit
Oskar Schindler und überlebenden Juden
basiert, hätten weder der Schriftsteller noch
Spielbergs Drehbuchautor Emilie Schindler
für ihre Recherchen gehört, meint Rosenberg. Sie vermutet, dass Pefferberg eine
Kopie des Originaldrehbuchs behalten hat
und es Keneally zur Verfügung stellte. Einem
Briefwechsel zwischen Schindler und Pfefferberg konnte sie entnehmen, dass Schindler
das Drehbuch von diesem zurückgefordert
hatte. Bis zu seinem Tod im Jahr 1974 habe
er es jedoch nicht erhalten.
„Hollywood ist machistisch“
Tatsache ist, dass Emilie Schindlers bedeutender Rolle bei der Rettung der Juden in
Spielbergs Film im Gegensatz zum Originaldrehbuch keine Beachtung geschenkt wurde.
„Hollywood ist durch und durch machistisch.
Da brauchten sie nur einen Herrn Direktor
einbauen, und eine Frau spielt überhaupt
keine Rolle“, schlussfolgert Rosenberg. Die
Filmlandschaft bekräftigt diese Vermutung:
Wie viele einprägsame und starke Frauenfiguren haben die großen Hollywoodfilme
der letzten 25 Jahre dominiert? Sehr wenige.
Frauen haben vor der Kamera nur selten
unabhängige Charaktere gespielt. Erst die
Oskars 2018 und 2019 haben Hoffnung
geweckt, dass sich bei den Macht- und Geschlechterverhältnissen in der Filmbranche
etwas bewegt. Dank #MeToo und „Time‘s
Up“ wurden dringende Debatten um die
Geschlechtergleichheit aufgeworfen.
Die im Jahr 2001 verstorbene Emilie
Schindler bekommt davon nichts mehr mit.
Zeit ihres Lebens hatte sie sich Anerkennung
und Gerechtigkeit für ihren persönlichen
Beitrag gewünscht. Laut ihren Freundinnen
und Freunden, wie auch Erika Rosenberg
zu einer wurde, lebte sie in Argentinien in
bescheidenen Verhältnissen. Von den Millionen verkauften Büchern wie „Schindler‘s
Ark“ und Spielbergs Film „Schindlers Liste“
haben andere profitiert. Über Spielbergs
Film äußerte sie sich in ihrer Biografie so:
„Obwohl der Film auf einem Buch basiert,
das die Wirklichkeit nicht genau beschreibt,
fand ich ihn hervorragend, und ich glaube,
er hat alle Preise, die ihm verliehen wurden,
zu Recht erhalten. Wahr ist aber auch, dass
ich darin in keiner Weise als Schindlers Frau
anerkannt werde.“
25 Jahre nach Erscheinen des mit sieben
Oscars ausgezeichneten Films - am Internationalen Frauentag - soll deshalb erwähnt sein,
dass es an der Seite von Oskar Schindler auch
eine mutige Frau gegeben hat. Eine Frau, die
lange unterschätzt wurde. Emilie Schindler
hätte verdient, angehört zu werden, um auch
ihren Anteil an der Rettung der „Schindlerjuden“ wahrheitsgemäß darstellen zu können.
Holocaust-Epos „Schindlers Liste“: Kein Platz für eine starke Frau?
Über die Anerkennung und Rolle, die sich Emilie Schindler gewünscht hätte
Von Antje Waldschmidt
Erika Rosenberg mit den ersten 30 Seiten von “To the last hour“.
Antje Waldschmidt
Auszug aus der Szene 13 des Originaldrehbuchs von Howard Koch.
Antje Waldschmidt
Emilie Schindler hat sich Zeit ihres Lebens gewünscht,
dass ihre Geschichte wahrheitsgemäß erzählt wird.
José Rosenberg / Erika Rosenberg
HINTERGRUND Freitag, 8. März 2019 5